In Thüringen ist seit 2020 die Umsetzung des DGE-Qualitätsstandards für die Verpflegung in Schulen gesetzlich verankert. Wir sprachen mit Alexandra Lienig, Leiterin der Vernetzungsstelle Schulverpflegung Thüringen, über Umsetzungsstrategien und Resonanz und fragten nach zentralen Erkenntnissen. Das Interview fand im Dezember 2023 statt.
Wie ist die verpflichtende Verankerung des DGE-Qualitätsstandards in Thüringen ausgestaltet?
Das Land Thüringen will den Qualitätsstandard vollumfänglich umsetzen, gemeint ist damit eine 100 %-Umsetzung. Dabei gelten die Vorgaben, die der Qualitätsstandard bezogen auf eine Menülinie macht, für alle angebotenen Menülinien eines Speisenanbieters. Damit wird verhindert, dass Unternehmen eine empfehlungsgerechte Menülinie anbieten, parallel dazu aber weitere wählbare Gerichte, die nicht den Empfehlungen entsprechen.
Mit welchem Ziel war die Vorgehensweise verbunden?
Die Zielsetzung der beteiligten Ministerien war ganz klar die Gesundheitsförderung. Thüringen hat einen hohen Anteil übergewichtiger Kinder und Jugendlicher, ihr Anteil liegt im Bundesländervergleich auf konstant hohem Niveau. Diese Tatsache und die Anknüpfung an die Nachhaltigkeitsstrategie des Landes war für die Entscheidung, Qualitätsstandards gesetzlich zu verankern, elementar. Mit einer gesundheitsförderlichen Mahlzeit am Tag in Kita und Schule ist ein grundlegender Baustein in der Präventionskette erfüllt. Seit 2018 gelten die Vorgaben für die Mittagsverpflegung in Kitas, 2020 gab es den Schulterschluss mit dem Setting Schule. Idealerweise soll die gesundheitsfördernde Verpflegung in beiden Settings adäquat durch Bildungsangebote bzw. im Unterricht ergänzt werden.
Wie war die Resonanz bei den Akteuren der Kita- und Schulverpflegung?
Der DGE-Qualitätsstandard ist bei Trägern und Speisenanbietern sehr gut bekannt. Die gesetzlich verankerte Anwendung wird von den Akteuren grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Allerdings war bis zur Einführung der Landesgesetzgebung ein nahezu tägliches Fleischangebot in vielen Thüringer Schulen üblich. Die neuen Anforderungen umzusetzen, war und ist daher für alle nach wie vor eine große Umstellung.
Mit welcher Strategie wird die gesetzliche Verpflichtung umgesetzt?
Wir verfolgen eine schrittweise Umsetzung der Empfehlungen des Qualitätsstandards basierend auf einem Punktwert. Im Rahmen eines IN FORM-Projektes hatten wir die Möglichkeit, einen solchen Ansatz im Beschaffungsmanagement für Schulträger zu erarbeiten. Zusammen mit einem Vergaberechtsexperten haben wir z. B. eine rechtssichere Musterleistungsbeschreibung und Bewertungsmatrix erstellt sowie die einzelnen Prozessschritte einer Beschaffung definiert. So können wir die Qualität sukzessive verbessern, Hürden bei der Umsetzung des Qualitätsstandards abbauen und Schulen optimal einbinden.
Für die schrittweise Umsetzung ist die im Vorfeld von Ausschreibungen übliche Marktanalyse ein zentraler Baustein. Sollte eine Marktanalyse ergeben, dass kein Anbieter die Vorgaben des Qualitätsstandards erfüllen kann, besteht juristisch gesehen ein Marktversagen. Das gibt uns die Möglichkeit, von der 100 %-Erfüllung abzuweichen und je nach regionalem Potenzial zum Beispiel auf dem Niveau von 60 % zu starten. Wir verankern dann vertraglich und in enger Abstimmung mit dem Schulträger, dass die Qualität in festgelegten Schritten innerhalb der Vertragslaufzeit steigen muss. Diese Vorgehensweise gibt allen Akteuren Raum für notwendige Anpassungen. Und auch die Schüler*innen haben Zeit sich zu gewöhnen. Alles andere würde den Erfolg einer verpflichtenden Umsetzung sicher in Frage stellen.
Wie unterstützen Sie konkret in der Praxis?
Als Vernetzungsstelle bieten wir mit fünf Mitarbeitenden eine landesweite Beratung für Schulträger an. Wir haben in Thüringen fünf Schulamtsbezirke mit insgesamt 33 kommunalen Schulträgern, die wir intensiv, individuell und vor Ort während des gesamten Beschaffungsprozesses und auf Wunsch begleiten. Ab dem Zeitpunkt, an dem sich ein Schulträger für eine Ausschreibung entscheidet, springen wir mit unserer Beratung ein: Vorbereitung, transparente Kommunikation, klare Definitionen der Vorgaben, die Festlegung der Zuschlagskriterien bis zum abschließenden Zuschlag. Auch die Schulen sind in diesen Prozess eingebunden. Wir haben uns für diesen Beratungsansatz entschieden, weil wir das Beschaffungsmanagement und die dadurch mögliche Qualitätsentwicklung und -sicherung in der Schulverpflegung als wesentlich erachten. Und wir sehen, dass unsere Beratung von den Schulträgern sehr dankbar angenommen wird. Vielfach besteht in den Schulverwaltungen zu dieser Thematik eine große Unkenntnis. Darüber hinaus bieten wir außerhalb von laufenden Beschaffungsverfahren auch für Speisenanbieter Veranstaltungen an. Sie können sich informieren, wie Vergaben ablaufen, wo Ausschreibungen zu finden sind, wie Speisepläne entsprechend der gesetzlichen Vorgaben gestaltet sein sollten oder wie sie geprüft werden. Gerade kleinere Unternehmen haben damit oft wenig Erfahrung.
Wie wird die Einhaltung der Vorschriften überprüft?
Für die Kontrolle fehlt derzeit noch eine übergeordnete Kontrollinstanz, so dass entweder die Schulverwaltung selbst prüft oder wir als Vernetzungsstelle mit der Prüfung der Vorgaben beauftragt werden. Die Überprüfung erfolgt während der Vertragslaufzeit immer unangekündigt. Wurde bei der Beschaffung unsere Musterleistungsbeschreibung verwendet, ist die Kontrolle recht einfach, da die Anforderungen überprüfbar formuliert sind. So erfolgt beispielsweise die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben für die Speiseplanung anhand unseres Speiseplan-Checks, der auch im Vorfeld der Vergabe genutzt wird. Der Vorteil des Checks ist, dass wir damit menülinienübergreifend prüfen können, ob einzelne Kriterien eingehalten werden. An dieser Stelle konnte uns die bestehende DGE-Zertifizierung oder der DGE-Speiseplan-Check nicht weiterhelfen, weil beide Möglichkeiten jeweils nur einzelne Menülinien fokussieren. Das Ergebnis unseres Speiseplan-Checks ist ein Punktwert zwischen 0 und 10, der sogenannte ‚Score‘. Er zeigt, wie gut insbesondere die Häufigkeitsvorgaben für die Lebensmittelgruppen im Speiseplan erfüllt sind. Der ‚Score‘ wird mit der Ausschreibung vorgegeben und fließt gewichtet in die Bewertung der Angebote ein. Damit bildet er die Basis für die vertragliche Qualitätssteigerung der Speiseplangestaltung.
Hat sich die Angebotsqualität der Verpflegung seit der gesetzlichen Verankerung verändert?
Aus meiner Sicht sind die Speisenanbieter auf einem guten Weg. Wir sehen eine stetige Entwicklung in die richtige Richtung, die allerdings Zeit braucht. Zur Unterstützung bieten wir für die Anbieter regelmäßig Infoveranstaltungen oder Workshops zum Beispiel zu den geltenden Vorgaben, dem Vergabeprozess oder der Speiseplangestaltung an. Außerdem können die Anbieter uns ihre Speisepläne (außerhalb von Vergabeverfahren) zur Kontrolle zusenden und erhalten eine Einschätzung sowie Hinweise zur Optimierung.
Als Anregung haben wir zudem aus den Speiseplänen der Anbieter einen vegetarischen Vier-Wochen-Muster-Speiseplan mit zwei Menülinien zusammengestellt und diesen nach DGE-Vorgaben optimiert. Die Basis sind Gerichte, die in Thüringen bekannt und beliebt sind. Eine Herausforderung bei der Umsetzung eines guten vegetarischen Angebotes ist allerdings die lange Warmhaltezeit, da Gemüse darauf sehr empfindlich reagiert. Darunter leidet unter anderem die Attraktivität der Mahlzeiten und damit die Akzeptanz der Schüler*innen für diese Gerichte. Insgesamt sehen wir aber überwiegend stabile Teilnahmequoten, was für das veränderte Angebot spricht.
Welchen Einfluss hatte die gesetzliche Verankerung auf die Entwicklung der Mahlzeitenpreise?
Im Vergleich zur neuen Speiseplanung waren der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und die Inflation die größeren Preistreiber. Aber auch das veränderte Angebot führt je nach Ausgangspunkt zu Kostensteigerungen. Der reine Elternpreis liegt derzeit im Durchschnitt bei 4,04 Euro über alle Schularten, 2021 im Herbst lagen wir noch bei 3,24 Euro, im Frühjahr 2022 bei 3,74 Euro. Wir sehen hier also deutliche Preissteigerungen innerhalb kurzer Zeit, die wir aus der Vergangenheit so nicht kennen. Inwieweit die gesetzlichen Vorgaben zu Preissteigerungen beigetragen haben, lässt sich durch die gleichzeitig stark veränderten Rahmenbedingungen nur schwer abbilden. Derzeit wird das Schulessen durch den Freistaat Thüringen nicht subventioniert. Dadurch sehen wir die Gefahr, dass die Teilnahme am Mittagessen zu einer Frage des Geldes wird. Es ist daher notwendig, dass das Land den Eltern finanziell unter die Arme greift oder aber auch die Rahmenbedingungen verbessert, z. B. durch Investitionen in Schulküchen und Mensen. Als Vernetzungsstelle werben wir dafür in den entsprechenden politischen Gremien.
In der Rückschau: Was sind Ihre zentralen Erkenntnisse?
Wir hatten mit der Pandemie und der krisenbedingten Preisentwicklung nicht unbedingt die besten Startchancen für die verbindliche Umsetzung. Als zentral würde ich auch den Zeitfaktor bewerten: Eine solche Verankerung braucht eine umfassende Kommunikation auf allen Ebenen und fachliche Begleitung, bis sie in allen Köpfen angekommen ist. Außerdem ist es wichtig, die Kontrolle von Anfang an mitzuplanen. Eine weitere zentrale Erkenntnis ist, dass Kinder deutlich aufgeschlossener auf Veränderungen im Speisenangebot reagieren als Erwachsene.
Welche Empfehlungen geben Sie anderen Ländern mit auf den Weg?
Wir sind von der verpflichtenden Vorgabe sehr überzeugt. Denn wir haben gesehen, dass eine freiwillige Anwendung von Qualitätsstandards nicht durchgängig und dauerhaft zu einer Qualitätsverbesserung führt. Die Herausforderung bei der freiwilligen Umsetzung ist, dass sich große Unterschiede zwischen einzelnen Schulträgern in den Anforderungen ergeben, was schwierig für die Umsetzung seitens der Speisenanbieter ist. Vor allem ist aus unserer Erfahrung gerade die kontinuierliche begleitende Beratung während der Beschaffung für die Schulträger ein entscheidender Gelingensfaktor. Außerdem sollte die Mitbestimmung der Schulen zum Verpflegungsangebot bei gesetzlichen Verankerungen immer mitgedacht werden. Nicht zuletzt muss eine gesetzliche Verpflichtung mit einer umfassenden Qualitätskontrolle einhergehen, hier muss Thüringen noch nachbessern.